Von der Hölle zum Himmel

Andrea Battistoni über seine Bewunderung für Arrigo Boitos Mefistofele

„Ich möchte, dass die Kunst allein zu mir spricht, ohne die Hilfe von Wissenschaft, Geschichte und Gelehrsamkeit. Ich glaube, dass mich eine Seite Musik mehr lehren kann als ein Kurs in Philosophie … Ich werde meine Ohren auf die Musik und mein Gedächtnis auf das Drama richten.“ 

— Zuschauer in Boitos Prolog im Theater der Urfassung 1868

Sie haben Arrigo Boitos Mefistofele bereits mehrfach dirigiert. Was ist für Sie das Faszinierende an diesem Werk?

Boito schuf mit Mefistofele eine gewagte Mischung aus italienischer Operntradition und der dunkelsten Seite der deutschen Romantik, musikalisch inspiriert von Liszt und Berlioz, ein in seiner Zeit ganz einzigartiges Werk. Seine Vorbilder waren natürlich Wagner und Goethe und er versuchte hartnäckig, in ihre Fußstapfen auf dem Weg zu wahrer Größe zu treten. Dabei muss man zwangsläufig auch mal stolpern (lacht). Und dennoch gelingt es ihm, uns mit der Großartigkeit seiner Visionen zu beeindrucken. Seine eklektische und darin ganz eigene Partitur ist farbenreich, unterhaltsam, intellektuell anspruchsvoll und sogar spirituell erbaulich, wenn man wie ich von ganzem Herzen daran glaubt. Mir ist aufgefallen, dass manche Kritiker dieser Oper gegenüber Vorbehalte haben mögen. Aber das Publikum, vor dem ich sie gespielt habe, hat sie einfach nur geliebt!

Diese Oper hat ihre eigene Sprache, die aus der italienischen Poesie, inspiriert von Goethes Meisterwerk, und aus einer herrlichen Musik von erstaunlicher Originalität und melodischem Reiz besteht.

Sie sind nicht nur Dirigent, sondern auch Komponist, u. a. von Il diavolo innamorato (Der verliebte Teufel). Was macht die Anziehungskraft dieser Teufelsfiguren aus?Und was ist das Besondere an der Teufelsfigur in Mefistofele?

Hinter der folkloristischen Figur des Teufels mit Hörnern und Hufen verbirgt sich viel mehr: Der Teufel stellt einen Schwellenwächter dar, der immer dann in Erscheinung tritt, wenn ein Mensch auf seiner spirituellen Suche weiterkommen will. Er zwingt uns, uns mit unseren eigenen inneren Konflikten, unseren Ängsten und Albträumen auseinanderzusetzen und spiegelt alles wider, was wir verabscheuen oder vielleicht zu sehr begehren. In dieser Hinsicht ist der Teufel wirklich „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“, um Goethes Faust zu zitieren.

Diese Idee des spirituellen Wachsens durch die Begegnung mit dem Teufel verbindet Boito mit der Tradition des „guten Teufels“ als Gauner, der in Märchen und Puppenspielen der lustige Handlanger des Helden ist. Boitos Mefistofele ist weniger unheimlich als Goethes. In gewisser Weise ähnelt er dem Charakter seines Komponisten selbst: eine seltsame Mischung aus Dichter, sarkastischem Intellektuellen, rebellischem Enfant terrible, zynischem Philosophen und überzeugtem Nihilisten, der ein gutes Verhältnis zu Gott hat.

Welche musikalischen Momente in Mefistofele lieben Sie oder welche empfinden Sie als ausgesprochen herausfordernd?

Der Prolog ist ein wahres Meisterwerk. Nur sehr wenige Komponisten haben versucht, eine Vision von Gott musikalisch darzustellen, aber Boito hat die Herausforderung nicht gescheut. Meiner Meinung nach hat er einen der eindrucksvollsten und wunderbarsten Momente der Musikgeschichte geschaffen, in dem die Bilder des Himmels, die wir aus der mittelalterlichen Tradition, aus Dantes Divina Commedia, aus William Blakes Gemälden oder aus den Fresken der europäischen Kathedralen kennen, durch seine kraftvolle Musik vor unseren Augen und in unseren Ohren lebendig werden. Ich bin sicher, dass Mahler diesen Teil der Oper sehr gut kannte und im Kopf hatte, als er das Finale seiner „Auferstehungssinfonie“ komponierte.

Das Kreieren dieser großartigen Klang Chor, einem Kinderchor mit zungenbrecherischen, schnellen Sätzen und einem großen Orchester ist ebenso herausfordernd wie ergreifend. Seine Darstellung der romantischen Walpurgisnacht im 2. Akt ist ebenfalls sehr einzigartig. In wenigen Minuten evoziert er mehrere Musikstile: vom teuflischen, rhapsodischen Stil Liszts bis zur melodiösen Arie, von der Ballade über die Fuge bis zum Ballett.

Sie waren bereits an der Semperoper Dresden zu Gast – was schätzen Sie an der Arbeit an diesem Haus?

Ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit mit der exzeptionellen Sächsischen Staatskapelle und mit dem gefeierten Staatsopernchor. Ich kann auf ihre große Erfahrung im italienischen Opernrepertoire aufbauen und auf ihren einzigartigen, besonderen Klang, der die romantische Atmosphäre des Mefistofele hervorheben und die Bezüge zur deutschen Tradition, die Boito in diesem Werk so sehr würdigt, in neuen Nuancen erstrahlen lassen wird.

Mefistofele ist ein sehr anspruchsvolles Meisterwerk, das leider selten gespielt wird, und braucht die bestmögliche musikalische Umsetzung, und ich fühle mich glücklich, es unter solch idealen Bedingungen in Dresden aufführen zu können. Begleiten Sie mit uns allen den Teufel auf dieser Reise von der Hölle zum Himmel!


Andrea Battistoni studierte Dirigieren und Komponieren u. a. bei Gabriele Ferro und Gianandrea Noseda in seiner Heimatstadt Verona. 2008 gab er sein Operndebüt mit La bohème am Theater Basel. Engagements führten ihn seither u. a. an die Opernhäuser von Berlin, München, Neapel, Palermo, Venedig, Valencia, Stockholm, St. Petersburg und Peking. 2012 debütierte er im Alter von 24 Jahren am Teatro alla Scala in Mailand als jüngster Dirigent in der Geschichte des Hauses. 2015 wurde er zunächst der führende Gastdirigent des Philharmonischen Orchesters Tokio und ist seit 2016 dessen Chefdirigent. Andrea Battistoni ist außerdem als Komponist tätig.