Etappen einer Annäherung

Eine Faszination und ihre Facetten – von John Neumeier

Sehr früh und ganz zufällig begann Nijinsky mich zu faszinieren. Ich bin in Milwaukee geboren und aufgewachsen, weit ab von jeder Tanztradition. Dennoch hat mich, soweit ich zurückdenken kann, Tanz angezogen, ohne dass ich ein klares Bild davon gehabt hätte, was Tanz und Tanzen sein könnte, einmal abgesehen von den opulenten Musicalfilmen aus Hollywood, die mir sehr gefielen. In unserer Nachbarschaft gab es eine öffentliche Bibliothek, die Llewelyn Library. Dort standen gerade einmal vier Ballettbücher im Regal – vielleicht waren es auch fünf –, das Borzoi Book of the Ballet, zwei kleinere Abhandlungen von Kay Ambrose über Technik und Terminologie des klassischen Tanzes und Anatole Bourmans The Tragedy of Nijinsky. Allein der Titel beeindruckte mich damals unglaublich, „the tragedy“, das entsprach so ganz und gar meiner kindlich romantischen Vorstellung vom „dornenreichen Weg“ des Lebens. Das habe ich mir mit zehn oder elf ausgeliehen – ich ging gerade in die sechste Klasse – und leidenschaftlich verschlungen. Der Nijinsky- Wissenschaftler Richard Buckle bezeichnete es später einfach als ein „bad book“, und sein Inhalt wäre Stoff „for the bafflement of future biographers“ – aber für mich besaß es Magie. Ich konnte es gar nicht mehr aus der Hand legen und erinnere mich noch genau, als ich in einer Pause auf dem Schulhof darin las. Mein Lehrer, Mr. Mehail, kam auf mich zu und fragte: „Was liest du denn da?“ Andächtig zeigte ich ihm meine Lektüre. Nie werde ich seinen Blick vergessen. Er schaute darauf, als ob es etwas Unanständiges wäre, und meinte schockiert: „Wieso liest du denn so was!“ Bis heute weiß ich weder, was er damit ge- meint hat, noch warum er so reagierte. Auf jeden Fall machte seine offensichtliche Sorge das Buch aufregender, geheimnisvoller, besonders, und Nijinsky gleichzeitig zu einem wirklichen Menschen für mich.

Nijinsky war der erste Tänzer, von dem ich mehr erfuhr und der für mich zum Menschen wurde. Ich lebte in einer Stadt, wo es kaum Ballett gab, weder eine ansässige Compagnie, noch eine größere, städtische Ballettschule. Einmal im Jahr kamen zu uns die Ballets Russes de Monte Carlo, der letzte Ableger der Ballets Russes de Diaghilew, und gaben zwei oder drei Vorstellungen mit zum Teil unterschiedlichem Programm. Einmal pro Saison gastierte auch das American Ballet Theatre, Ballet Theatre hieß es damals noch, mit zwei oder drei verschiedenen Abenden, wenn man Glück hatte. Anders als das Buch brachte mich der Besuch dieser Aufführungen dem Tanz nicht wirklich näher, sondern behielt etwas ganz Distanziertes. Es blieb eine traumhaft schöne, aber ferne, fremde Welt, in die ich mich nie trauen würde. Nie hätte ich mir zugetraut, einmal ein Teil davon zu werden. Dazu fühlte ich mich nicht würdig. Nijinsky dagegen war für mich ein Mensch. Und da begann, glaube ich, die Faszination.

Natürlich habe ich ihn nie tanzen sehen, nie das Erregende einer Vorstellung miterlebt, dafür aber hatte ich Fakten, die mich tief berührten, erfuhr über seine Kindheit, sein Erwachsensein und seinen Weg in den Wahnsinn. Das alles geschah mir als Zehnjähriger. Das war der Samen – etwas, das wuchs und immer tiefer wurde. Und das mich komischerweise nie enttäuscht hat, was selten ist. Alles, was ich später über Nijinsky erfuhr, ließ ihn mir nur vertrauter werden und ergab für mich ein immer vollständigeres, geschlosseneres Bild. Es zeigte mir einen Menschen, dessen Motivation ich nachvollziehen konnte, der mir künstlerisch und menschlich zum moralischen Vorbild wurde, und den ich zu verstehen glaubte. Dieses erste, noch vor der Pubertät gelesene Buch schuf eine Nähe und löste eine bis heute andauernde Faszination aus. Nicht der Tänzer Nijinsky war es also, an den ich zunächst dachte, es war sein menschliches Schicksal, das mich in seinen Bann zog.

Die nächste – literarische – Berührung mit Nijinsky fand etwa um 1960 statt. Es war die Zeit, als ich an die Universität ging und meine ersten choreografischen Schritte unternahm. Wieder war es ein Buch, diesmal Romola Nijinskys umstrittene Biografie. Ich erstand sie zusammen mit einer anderen Ballettpublikation. Damals fing ich schon an, Bücher über Tanz zu sammeln, allerdings noch mit bescheidensten Mitteln, nur das Allergünstigste konnte ich mir erlauben. Ich sehe mich noch vor einem Schaufenster stehen und sehnsüchtig ein Buch von Agnes de Mille in der Auslage betrachten. Es war heruntergesetzt und sollte nur 99 Cent kosten, doch ich konnte es mir nicht leisten. Ein anderes hatte ich mir gekauft: The Dictionary of Modern Ballet. In ihm gab es etliche Abbildungen, vor allem waren es farbige Illustrationen zu Produktionen der Ballets Russes. Sie waren klein, sehr klein, aber dafür waren es viele und für mich sehr an- und aufregend. Das Bild von Scheherazade etwa beflügelte meine Fantasie, nicht nur durch seine Üppigkeit und Exotik, auch der Geschichte wegen, die sich darin verbarg. Es wurde mir zum Urbild für das, was ein Ballett sein kann: ein geheimnisvolles Drama.

„Ich bekomme Angst, denn ich sehe den größten Schauspieler der Welt.“
Sarah Bernhardt

Ein Jahr später kam ich dem Drama näher und bin, fast wörtlich, in es eingedrungen. Die Ballets Russes de Monte Carlo brachten bei ihrem jährlichen Gastspiel Scheherazade mit nach Milwaukee und brauchten zusätzliche Statisten. Ich meldete mich. Es ging um die letzte Szene: Früher als erwartet kehrt Schah Schariar nach Hause zurück, er überrascht im geschlossenen Harem seine Geliebte Zobeide und die anderen Haremsdamen bei einer höchst sinnlichen, erotischen Orgie mit den Sklaven seines Hauses, unter ihnen der Goldene Sklave, Nijinskys berühmter Part. Panik bricht aus, alles versucht zu fliehen, aber die Wachen werden gerufen. Das war unser Auftritt. Mit großen, gekrümmten Säbeln hatten wir alle niederzumetzeln. Natürlich gab es keine Probe, wir wurden einfach rausgeschickt. Ich lief, meine Stanislawsky-Technik im Kopf – gerade hatte ich mit dem Studium begonnen –, auf die Bühne, ganz in der Rolle. Überall lagen Ballettmädchen. Ich war unheimlich aufgeregt. Da flüsterte mir eine zu: „... kill me, kill me ...“.

„Dieser Künstler, der als Tänzer eine tolle, fantastische Karriere gemacht hatte, war ein sensibler, tief spiritueller Mensch. Und das hat meine Liebe wachsen lassen. “

Wichtiger als dieser kleine Auftritt war natürlich Romolas Nijinsky-Biografie, eine sehr persönliche, subjektive Schilderung, die sicher nur eine Seite seines Lebens beleuchtet und nur einen Teil seines Wesens spiegelt. Aber sie schenkte mir eine Fülle von Details über den privaten Menschen und die Welt, in der er lebte. Ich erfuhr mehr über ihn, sein Tanzen und die letzten, langen, schweren Jahre. Aus dem Menschen Nijinsky wurde nun der Tänzer und ein bisschen der Choreograf, auch wenn ich diesen Aspekt damals noch weniger wahrnahm. Ein Künstler mitten im Phänomen der Ballets Russes de Diaghilew, von denen ich einen ersten Eindruck hatte aufgrund der vielen kleinen farbigen Abbildungen in dem oben erwähnten Ballettlexikon – das war das andere Buch, das ich damals besaß, als eines von vieren – inzwischen sind es über 13.000 geworden.

Die weitere Vertiefung dieser Nijinsky- Spirale wurde wieder durch ein Buch verursacht. Ich stieß auf Nijinskys Tagebuch – in der von Romola editierten Fassung, stark gestrichen, umgestellt und bearbeitet, wie wir heute wissen. Es hat mich tief beeindruckt, ich geriet immer mehr in seinen Sog. Inzwischen war ich in der letzten Phase meiner tänzerischen Ausbildung. Ich studierte an der Royal Ballet School in London und wusste, ich musste unbedingt versuchen, ein Teil jener Tanzwelt zu werden, die mir in Milwaukee noch so unerreichbar fern und fremd erschienen war.

Nun las ich, was diesen Mann – als Tänzer ein Weltwunder – im Innersten bewegte, was seine Seele bedrückte, spürte seine Verstörung angesichts des Ersten Weltkriegs, und begriff, dass Leben für ihn etwas Geistiges, Spirituelles war. Ich erfuhr von seiner Philosophie des Gefühls im Gegensatz zum Denken. Wieder entdeckte ich eine Schicht seiner Persönlichkeit, die tief in mir ein Echo fand und mich beeinflusste. Es bestärkte mich in dem Empfinden, dass das Spirituelle im Menschen, seine geistige Suche, durchaus ein Sujet für Tanz ist. Wer das im Tanz nicht sehen will, ist wie jemand, der prüde ist und das Erotische von Tanz leugnet. Erotik und Spiritualität gehören zum Menschen. Und Kunst spricht vom ganzen Menschen. In Nijinsky war das eindeutig, sein Tagebuch legt davon Zeugnis ab. Dieser Künstler, der als Tänzer eine tolle, fantastische Karriere gemacht hatte, war ein sensibler, tief spiritueller Mensch. Und das hat meine Liebe wachsen lassen.